Hermann Götting
Sammler Kölner Vergangenheit (1939–2004)
Dass er in einem Buch mit dem Titel „Kölner Orjenale” auftaucht, hätte ihm vielleicht nicht zugesagt. Hermann Götting missfiel es gründlich, als Kölner Original betrachtet zu werden. Aber seine Begründung, Originale seien zu seiner Jugend Leute gewesen, die später in „ummauerten Anstalten“ saßen, trifft ja nun weder auf ihn noch auf die anderen in diesem Buch beschriebenen Kölner Persönlichkeiten zu.
Schwerer wiegt da schon, dass Hermann Götting nicht in Köln geboren wurde. Dennoch hat er sich als Sammler von Alltagsgegenständen und Bewahrer kölscher Zeugnisse vergangener Zeiten um seine Wahlheimat Köln verdient gemacht, und deshalb soll in diesem Buch seiner gedacht werden.
Doch der Reihe nach: Als ein „Kind der Liebe“, d.h. unehelich, kam er am 29. August 1939 im hessischen Haiger zur Welt. Die Großeltern, durch das unehrenhafte Verhalten der Tochter in ihrer 200 Jahre währenden Schuster-Tradition zutiefst getroffen, holten dennoch nach kurzem Zögern ihn und seine Mutter in die Familie zurück. Götting nannte seine Großeltern Mutter und Vater, seine leibliche Mutter wurde kurzerhand zur Tante erklärt.
Sie bereitete ihren Eltern mit ihrem extravaganten Geschmack und ihren ausgefallenen Kleidern auch in späteren Jahren noch so manchen Kummer. Ihre Ausdrucksform und auch ihre Lust auf Musik und ausdrucksvollen Tanz prägten ihren Sohn jedoch nachhaltig.
Sammler aus Leidenschaft
Eine weitere zukünftige Leidenschaft trat bereits Anfang der 1950er Jahre zu Tage: Götting zog mit dem Handwagen bewaffnet durch die Ortschaften, stets auf der Suche nach ausrangierten Gegenständen, die ihm wertvoll genug erschienen aufbewahrt zu werden. Zum Gespött der Nachbarn sammelte er alles, was andere Leute wegwarfen: Lampenschirme, Kaffeemühlen, Stühle, Kleider… Er selbst beschrieb es fast als Sucht, die ihn morgens aus dem Bett trieb und sammeln ließ.
Seinen Traumberuf Nummer eins, umjubelter Schauspielstar, verfolgte er später nicht weiter. Zum Traumberuf Nummer zwei, Straßenbahnschaffner, schaffte er es jedoch nach einigen Umwegen, zunächst in Siegen, ab 1962 dann in Köln. Fiel er in Siegen bei den Vorgesetzten mit seinen ausgefallenen
50er Jahre-Klamotten, die er der Arbeitskleidung vorzog, noch eher unangenehm auf, war das in der Großstadt Köln weniger problematisch.
Unter seinen Kollegen erlebte er viele wahre kölsche Urgesteine, jeder und jede mit ihren eigenen Macken behaftet.
Die unterschiedliche, nach dem Krieg oft wild gewachsene Architektur der Stadt gefiel ihm sehr. Bei seinen Fahrten durch Köln sog er das abwechslungsreiche Stadtbild der 1960er Jahre in sich auf und lernte es lieben. Nach Dienstschluss erkundete er nach und nach sämtliche Trödel- und Antiquitätenläden und gab manches ersparte Geld sofort wieder aus.
1968 kam das Aus für viele Straßenbahnbedienstete. Fahrkartenautomaten ersetzten die Menschen und beendeten Göttings Karriere als singenden Schaffner.
Er fand Anstellung in der Bar „Chicos“ und wurde von da an zum Kölner Nachtschattengewächs. Als inzwischen bekennender Homosexueller lernte er dort viele der damaligen Travestiegrößen kennen. Mit seinem Freund zog Götting in die Richard-Wagner-Straße; „Schloss Höhenflug“ wurde ihr Domizil genannt. Er war ein begeisterter Gastgeber, der seine Besucher in die Vergangenheit entführte: Damastdeckchen, edle Kristalle und Jugendstil-Becher zierten den Tisch. Man traf sich in seinem Salon, es wurde geschauspielert und musiziert, und Künstler gaben Kostproben ihres Könnens. Götting arbeitete nacheinander in verschiedenen angesagten Bars und exklusiven Tanzlokalen Kölns, zunächst als Barkeeper, später als Conférencier (im Travestie-Theater „Madame Arthur“ und im „Moulin Rouge – Tingel-Tangel“).
In den 1970ern herrschte oft akuter Geldmangel bei ihm; einmal verkaufte er sogar Teile seiner gesammelten Antiquitäten. Doch wann immer er von einer Wohnungsauflösung hörte, zog Götting los, Wein und Zigaretten unter dem Arm. Dort und bei Trödlern holte er sich alles, was ihm gefiel.
Wieder war der Bollerwagen sein ständiger Begleiter.
Seine Wohnung war faszinierend eingerichtet: Das Speisezimmer im Jugendstil, der große Salon spiegelte die Einrichtung der 1920er Jahre wider. Im Frühstückszimmer erwarteten den Besucher die 1930er, im Gästezimmer die 1950er Jahre. Götting schlief in einem original französischen Schlafzimmer aus dem Jahre 1870. In seiner Kölner Stube fand man sich im Barock wieder, die Küche war im Gründerzeitambiente ausgestattet und der Flur im Stil des Biedermeiers. 1978 war dies der Zeitschrift „Mode und Wohnen“ ein ausführlicher Bericht wert, der ihn von da an zu einer bekannten Kölner Persönlichkeit werden ließ.
Auch sein Auftreten machte ihn berühmt: Mit bunten, meist wallenden Gewändern und Mänteln, wagenradgroßen Hüten und dolchlangen Fingernägeln war er in Köln unterwegs, immer begleitet von seinen zwei Hunden, der Dogge Ivo und dem Chow-Chow Wotan. Man nannte sie auch das „Kölner Dreigestirn“.
Das Vergangene bewahren
Im Laufe der 1980er Jahre änderte sich das Kölner Stadtbild rapide.
Immer mehr liebevoll dekorierte Schaufenster kleiner oder auch edler Läden verschwanden und wurden ersetzt durch lieblos gestaltete Niederlassungen größerer Einkaufsketten.
Das unwirtlich gewordene Stadtbild machte Götting sehr betroffen und bestärkte ihn in seinem Wunsch, Retter der Spuren vergangener Zeiten im Kölner Stadtbild zu sein.
Er wollte die Alltagsgegenstände vor dem gedankenlosen Abbruch bewahren und sammelte in seiner Wohnung sowie in angemieteten Lagern alles, was ihm wichtig erschien: Drehtüren, Leuchtreklamen, Laden- und Werkstatteinrichtungen, Lampen, Kronleuchter, Nippes, Trivialkunst, Eierbecher, Puderdosen, Krawattenglätter, Fernseher, Friseursalons, Theken… die Liste könnte fast endlos fortgesetzt werden. So gut wie alles holte oder organisierte er eigenhändig, so z.B. die 4711-Leuchtschrift vom Messeturm, die er 1993, von den Arbeitern neugierig beäugt, in drei Tagen abmontierte.
Mehrere zehntausend Objekte, manche sprechen sogar von hunderttausend, kamen so aus acht Jahrzehnten zusammen. Inmitten dieser lebte er, oft am Rande des Existenzminimums und unter Verzicht auf viele Errungenschaften der modernen Zeit.
Zu Göttings Verdienst gehört auch, dass er sich bemühte, vielen seiner Objekte ihre Geschichte wiederzugeben. So entzifferte er beispielsweise die Stempel auf Keramikgegenständen und fuhr in die entsprechenden Werke, um sich über die Herkunft und Entstehungsgeschichte zu informieren. Mehr als 40 Ausstellungen in verschiedenen Städten organisierte er im Laufe von über 20 Jahren, u. a. 1981 „Gesammelt in Köln“ und 1985/86 „Von Marie Chevalier zum Nierentisch“ im Kölner Kunstverein, 1988 „Made in Western Germany“ im Studio DuMont und 1996 „Mannequins“ im Museum für Angewandte Kunst in Gera.
Kölnische Alltagskultur – gerettet für wen?
Nach 1989 feierte er jährlich seinen fünfzigsten Geburtstag. Stets waren es rauschende Feste. Kurze Zeit nach seinem 15. fünfzigsten Geburtstag starb er, vermutlich an den Folgen einer verschleppten Lungenentzündung. Er hinterließ kein Testament, und seine Sammlung ist in den Besitz seiner beiden Schwestern übergegangen.
Ein Jahr nach seinem Tod fand die Sonderausstellung „Ein Sammler-Original – in memoriam Hermann Götting“ statt. Nicht in Köln, sondern in Gera. Hans-Peter Jakobson, Leiter des dortigen Museums für Angewandte Kunst, handelte schneller und vor allem entschlossener als seine Kölner Kollegen und sicherte sich gut 1.000 Exponate aus der Sammlung. Die Ausstellung war ein großer Erfolg – doch in Köln überlegt man immer noch, was wohl zu tun sei mit dem Nachlass. Vielleicht zeigt sich die Begegnung, die Götting in seiner 1995 erschienenen Autobiografie „Die Figur dazu hab ich“ (Edition día, Berlin) beschrieb, als schicksalsvoll. Nachdem er es abgelehnt hatte, seine Sammlung dem Bonner Haus der Geschichte zu verkaufen, wurde ihm von einem für die Kölner Kunstszene wichtigen Herrn prophezeit, dass es ein Museum Götting in Köln nicht geben werde. Götting fragte sich daraufhin, ob man sich von einem Autodidakten nicht die Schau stehlen lassen wolle.
Zuletzt diskutierte der Kölner Ausschuss für Kunst und Kultur im Juni 2005 über die Möglichkeit, einzelne Ausstellungsstücke für Kölner Museen zu erwerben. Es bleibt abzuwarten, ob Göttings Versuch, den Kölnern ein Stück ihrer Vergangenheit zu retten, tatsächlich vergebens gewesen sein sollte.
Im Moment ruht sie in Gera sowie in Bunkern in Köln und in einem der Pfeiler der Deutzer Brücke.
Cornelia Auschra